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  • Trauer. Eine Erinnerung

    Trauer kann helfen, zu verstehen. Was ist die Essenz von Freiheit? Dr h.c. Bergel, der ein Landsmann und Wegbegleiter Manfred Winklers war, übergab rainStein einst diese eindrückliche Rede. Kurz vor Pessach und Karwoche spricht sie uns wieder an: Trauer im Zeichen doppelter Erschütterung (Rede zum Volkstrauertag 2008) Zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Toten zu gedenken, heißt zwangsläufig, sich des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Wer an dem Jahrhundert teilhatte und seinen Ereignissen ausgesetzt war, wird nicht loskommen von ihm, solange er atmet. Man hat es das Jahrhundert der Massenmörder genannt, die Zahl ihrer Menschenopfer wurde von Historikern auf Größen veranschlagt, die unfasslich anmuten. Die Art des Sterbens kannte dabei Formen, die angetan sind, auch künftigen Generationen die Schauer über den Rücken zu jagen. Als ich im Januar 1962 als politischer Strafgefangener in einem Zwangsarbeitslager an der unteren Donau bei 32 Kältegraden die Hand des sterbenden 28-jährigen Arztes Dr. Mehedinţ in meiner Hand hielt, bis sie erkaltete, hatte ich eine dieser Formen kennen gelernt. Der Uniformierte, der dem Arzt mit dem Schlag eines Spatens den Schädel zertrümmert hatte, weil er mit dem vollbeladenen Schubkarren auf dem vereisten Brettersteg gestürzt und nicht schon in derselben Sekunde wieder aufgestanden war, hatte sich nach dem Hieb vor uns aufgebaut, sich eine Zigarette angezündet und zwischen zwei Zügen in die vom Blut roten Schneebrocken neben dem Gesicht mit den erloschenen Augen gespuckt, hinter sich zwei Bewaffnete der Eskorte unseres Arbeitstrupps, die auf mich gerichteten Maschinenpistolen in den Fäusten. Wenn ich in den folgenden Minuten der Toten im ehemaligen riesigen Herrschaftsbereich kommunistischer Diktatoren gedenken soll – wie mein Auftrag für diese Feierstunde lautet –, kann ich es nur im Zeichen der Teilhabe an Bildern wie diesem tun. Die Zahl der Variationen solcher Bilder ist unbegrenzt, die Vielfalt schmerzhaften Rückblicks ebenfalls, und die Auffassung vom Tod als einem zum Ganzen unseres Daseins gehörenden natürlichen Teil verliert für mich jenen Akzent an Verbindlichkeit, die ihm nach meinem Dafürhalten in unserer redseligen Welt allzu schnell zugesprochen wird. Denn auch ich erfuhr, wie viele andere, dass es Tode gibt, die nicht zu den natürlichen Abschlüssen eines Menschenlebens zählen, sondern als finale Vergewaltigungen erscheinen, die mit dem Leben der Menschen, die sie wehr- und schuldlos erdulden mussten, auf „natürliche“ Weise nicht das Geringste zu tun haben. Fratze der Unmenschlichkeit Wie anders nämlich zwingt uns das 20. Jahrhundert dank seiner Scheußlichkeiten, heute über diese letzte aller Fragen zu befinden, als es vorhergehende Epochen vermochten. Wenn z.B. Goethe vom Schicksal des Menschen spricht und einem jeden jene Art des Todes als zugemessen erachtet, „die analog zu seinem Leben sei“, wie er als Zweiunddreißigjähriger schrieb, dann kommt das aus der Sicht der Erfahrungen unserer Toten des 20. Jahrhunderts deren Verhöhnung gleich. Kein Denkender und Fühlender wird sich zur Behauptung erkühnen, dass die im genannten Jahrhundert gewaltsam zu Tode Gebrachten ihren letzten Atemzug unter Umständen taten, die ihrem „Leben analog“, das heißt angemessen waren – ohne dass Goethe wegen der Briefstelle eine Vorhaltung verdiente: Denn wie hätte er sich ausmalen können, welche Art von Toten es im Gefolge des 20. Jahrhunderts zu betrauern gilt? Sicher, es gab auf den Schlachtfeldern der Kriege, auf den Wegen der Fliehenden, auf den Kampfplätzen der Revolutionen in den Jahrhunderten vor dem zwanzigsten genau so unter Qualen ihr Leben aushauchende Menschen: es gibt in der Geschichte – Gott sei ‘s geklagt! – seit jeher die perverse Art des Tötens. Doch niemals vorher in diesen Dimensionen, und die Anschauung des spezifischen Grauens um das Sterben, wie es uns ins Gedächtnis gebrannt ist, hatten die Menschen vorhergegangener Zeiten weder nach Form noch nach Ausmaß. So steht unsere Trauer im Zeichen doppelter Erschütterung: sie erschien in dieser Quantität und Qualität ehemals undenkbar. Das Herkömmliche in der Betrachtung des Todes, im Verständnis der Trauer – wenn es denn so etwas gibt – verlor seit dem 20. Jahrhundert an Gültigkeit. Wer z.B. befreit mich von der historisch gebrandmarkten persönlichen Trauer um meinen Freund Fürst Alexander Ghika, der sich zuerst – um mich nicht der Bukarester kommunistischen Geheimpolizei „Securitate“ zu verraten – die Knochen brechen ließ und Jahre später, als er gezwungen werden sollte, Freunde auszuhorchen – darunter mich –, sich 45-jährig erhängte? Es gibt Millionen Menschen, denen sich die vergleichbare Frage stellt.... Eingedenk dieserart zu Tode Gekommener verbietet es sich mir, schonungsvoll in Allgemeinplätzen hier zu reden. Ich sehe mich vielmehr vor den Anspruch gestellt, den geraden Blick in die Fratze der Unmenschlichkeit zu ertragen. Alles andere wäre Lüge. Der französische Historiker Stéphane Courtois, der mit dem Monumentalwerk „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ weltweit die Geister erregte, kreidet den kommunistischen Systemen des Ostens rund einhundert Millionen umgebrachte Menschen an; wörtlich: „Alles in allem kommt die Bilanz der Zahl von hundert Millionen nahe.“ Während er davon für die Sowjetunion 20 Millionen festhält, die er den „Verbrechen gegen Personen“ zuzählt, gehören zu der von ihm errechneten einen Million tödlicher Untaten in den kleineren Moskauer Satellitenstaaten auch die in der DDR, das heißt auf deutschem Boden begangenen. Der in diesem Jahr neunzigjährig verstorbene Russe Alexander Solschenizyn kam bei seinen Erhebungen für den sowjetischen Bereich auf erheblich höhere Zahlen. Die an den Kriegsfronten Gefallenen nicht einbezogen. Erschreckt uns die Ziffer, so lässt uns die Vergegenwärtigung der Einzelschicksale, die hinter ihr stehen, in einem Zustand profunder Irritation zurück. So schrieb der Bukarester Zeithistoriker und Publizist Romulus Rusan: „In jedem Atom dieses Universums des Leids verbirgt sich ein Mensch, der die Kreise der Hölle durchmaß (....) Jeder Fall für sich betrachtet wühlt den Kenner der Materie stärker auf als die abgeschlossene Statistik (...) Der Blick ins einzelne Gesicht macht mehr verständlich als der Anblick ganzer Sklavenkolonnen. Der (54-jährige) Historiker, der in der Gefängniszelle durch Hunger ‚liquidiert’ wurde, weil er sich geweigert hatte, seine Schriften zu verleugnen; der 70-jährige Oberst, der an allen Fronten des Krieges gekämpft hatte und dann an der Blutvergiftung zugrunde ging, die er sich als Häftling bei der Zwangsarbeit auf den Reisfeldern als Folge der Hautverletzungen durch Blutegel holte; die drei Kinder – ein einjähriger Zwilling und dessen älterer Bruder –, die in der Erdhütte der Donausteppe erfroren (wohin ihre Familie mit Tausenden anderer zwangsverschickt worden war); der Student, der sich entleibte, um die Torturen der (mit unvorstellbaren Methoden in den Gefängnissen betriebenen) ‚Umerziehung’ nicht mehr ertragen zu müssen; der Bauer mit einem Hektar Grund, der im Kerker totgeprügelt wurde, weil er einen Beschwerdebrief verfasst hatte; der Gelehrte, der sich aufopferte, um dem in der Zelle an Lungenentzündung erkrankten Jungen das Leben zu retten (indem er ihm von seiner kargen Essensportion monatelang die Hälfte gab, bis er vor Entkräftung starb); die Frauen, die sich zur Ehescheidung von ihren eingekerkerten Männern gezwungen sahen, um die Kinder und sich selbst (vor den Nachstellungen durch die Geheimpolizei) zu schützen und den Arbeitsplatz zu behalten (...) Alle diese Momentaufnahmen sind Anklagen gegen ein Verbrecherregime (...) Der Kommunismus entstellte das Schicksal von Generationen und verstümmelte Millionen von Leben junger Menschen. ‘Klassenkampf’, ‘Klassenhass’, ‘revolutionäre Wahrheit’ waren die Parolen, die nicht allein zum Tod von Menschen und zur Vernichtung von Eliten, sondern auch zum Gesellschaftsmord führten.“ Östliche Seite der Medaille Dies alles rührt nicht nur an momentane politische Auffassungen. Und das Panorama der Möglichkeiten, Täterpotenziale oben angesprochener Beschaffenheit im Menschen zu mobilisieren, wie sie uns das 20. Jahrhundert in Ost und West demonstrierte, darf auch nicht nur unseren Abscheu erregen. Es reicht tiefer. Es trifft die Grundlagen des Bewusstseins unserer Kultur und stellt uns vor die Frage: Ob die Philosophien, die wir uns in Europa seit der Antike, seit Aristoteles und Plato über mehr als zweitausend Jahre hinweg bis hin zu Kant aufbauten, um uns in der Schöpfung, in der Welt und in uns selbst zurechtzufinden, nicht überdacht werden müssen, weil sie doch im Blick auf das praktische Handeln letzten Endes unverbindlich blieben und alle die Opfer vor den gottlosen Ausfällen nicht schützen, von den Tätern aber – in unterschiedlicher Deutung – ausnahmslos für ihr Handeln reklamiert wurden. Selbst die Religion bot keine Gewähr, da ja auch sie nicht genügend viele Menschen stark machte in Ost und West, dem Unheil entgegenzuwirken. Ebenso wenig taten es die großen Gefühle, zu denen uns die Kunst animiert... Wir schulden Überlegungen dieser Art den Toten, derer zu gedenken wir zusammengekommen sind. So aufgeregt sich Unbelehrbare und auf einem Auge Blinde den Forschungsergebnissen Stéphane Courtois’ hinsichtlich der Grausamkeiten der Diktaturen im Osten zeigten und Courtois angriffen, so stetig wächst der Kreis bohrender Forscher, die sich den Blick auch auf die östliche Seite der Medaille des 20. Jahrhunderts, das heißt auf die Armeen der Toten hinter dem Eisernen Vorhang und die Trauer um sie nicht verbieten lassen. Im Unterschied zu der vom Nationalsozialismus herbeigeführten menschlichen Tragödie – schrieb Courtois – „war es den Opfern des Kommunismus und ihren Angehörigen lange verwehrt, das Gedächtnis des tragischen Geschehens öffentlich zu pflegen, da jegliche Erinnerung und Rehabilitationsforderung verboten waren. Der Totalitarismus hat eine nationalsozialistische, aber auch eine leninistisch/stalinistische Version. Es ist nicht länger akzeptabel, eine halbseitig gelähmte Geschichte zu schreiben (...) Der Tod eines ukrainischen Bauernkindes, das vom stalinistischen Regime gezielt der Hungersnot ausgeliefert wurde, wiegt genau so schwer wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das dem vom NS-Regime herbeigeführten Hunger zum Opfer fiel.“ Es kann schon von der Anlage der Schöpfung her nicht Tote erster und Tote zweiter Klasse geben – und es gibt auch keine Toten dieser oder jener Nationalität. Denn im Tod erlöschen Zuweisungen dieser und ähnlicher untergeordneter Art; der Tod anerkennt uns allein als Menschen, im Tod sind wir über alle Begrenzungen hinweg, was uns im Leben so schwer gelingt: Brüder und Schwestern. Kommunistisches und nationalsozialistisches Kainsmal auf 20. Jahrhundert Noch bevor Solschenizyn mit seinen drei „Gulag“-Bänden auf die massenmörderischen Praktiken des Kommunismus hinwies, hatte der in der Ukraine geborene Jude Wassili Grossman im 1960 abgeschlossenen, erst nach seinem Tod veröffentlichten Roman „Leben und Schicksal“ die „frappierende Verwandtschaft von Nationalsozialismus und Sowjetregime“ zur Sprache gebracht: deren „Wesensgleichheit“, wie der kommunistische spanische Renegat Jorge Semprun feststellte. Zusätzlich sind heute Historiker vom Rang des Polen Andrej Paczkowski, des Tschechen Karol Bartosek, des Chinakenners Jean-Lous Margolin, des Deutschen Ehrhart Neubert, des Engländers Donald Rayfield, des Ungarn Czaba Zoltán und andere am Werk, Licht ins immer noch gehütete Dunkel kommunistischer Mordtaten zu bringen, die zusammen mit jenen der Nationalsozialisten dem 20. Jahrhundert das Kainsmal aufdrückten. Keinem von ihnen geht es um Aufrechnung der einen Mörderei gegen die andere. Es geht um die Erkenntnis, die der vor zwei Jahren verstorbene deutsche Journalist und Hitler-Biograph Joachim Fest in seiner Autobiographie „Ich nicht“, 2006, formulierte: dass es der bedeutendste Triumph kommunistischer Propaganda sei, die Aufmerksamkeit der Welt von den eigenen Kapitalverbrechen auf jene der Nationalsozialisten abgelenkt zu haben – und dass damit, füge ich hinzu, die Toten im Osten, zum Anonymat verdammt, um ihre Würde gebracht werden. Aus dieser Erkenntnis heraus hatte Courtois vermerkt: „Während die Namen Himmlers oder Eichmanns in der ganzen Welt als Symbole zeitgenössischer Barbarei bekannt gemacht wurden, sind Dserschinski, Jagoda oder Jeschow weitgehend unbekannt. Und was Lenin, Mao, Ho-Chi-Minh und selbst Stalin betrifft, so wird ihnen immer noch eine erstaunliche Verehrung zuteil.“ Aber die Toten, für die ihre Namen stehen – schrieb Romulus Rusan – „bitten aus dem Himmel, sie nicht zu vergessen“. Zu ihnen gehören die Toten des 17. Juni 1953, die Toten an der Berliner Mauer und am deutsch-deutschen Grenzstacheldraht ebenso wie die des Volksaufstandes im Oktober 1956 in Ungarn, die Toten der ungezählten großen und kleinen Revolten im sowjetischen Konzentrationslager- und Verbannungsimperium, von denen keine Kunde je bis in den Westen drang, die Toten 1970/71 in Danzig, Gdingen und Stettin, in den Wojwodschaften Breslau und Lublin, als sowjetische Panzerkanonen das Feuer eröffneten, die Toten der Selbstverbrennungen aus verzweifeltem Protest wie die in Prag 1968, der Volkserhebung im Dezember 1989 in Rumänien. Aber auch die in den Folterzellen von Bautzen in der Oberlausitz, im unterirdischen Fort Nr. 13 Jilava bei Bukarest, in den schalldichten Kammern des Lubjanka-Gefängnisses des sowjetischen Innenministeriums, auf dem Militärareal der Roten Armee Betowo bei Moskau, in den Steinverliesen der bulgarischen Rhodope-Gebirge usw. Ihrer aller sei heute gedacht, wie ja nicht zuletzt auch jener auf den östlichen Flucht- und Vertreibungsstraßen des Herbstes 1944, des Winters 1945. Und da sind auch die in den Arbeits- und Todeslagern ums Leben gekommenen deportierten Deutschen aus Südosteuropa – aus dem Banat, der jugoslawischen Untersteiermark, aus der Krain und aus Südkärnten, aus Siebenbürgen und aus der Bukowina – woher schon 1941 zehntausende Juden von den Sowjets nach Sibirien gebracht worden waren –, aus der ungarischen Schwäbischen Türkei, aus den schönen deutschen Ortschaften im Ungarischen Mittelgebirge usw. Bis zu einem Drittel, hielten Fachhistoriker fest, starben die Deportierten in den Steinkohleminen des Donezbeckens, beim winterlichen Straßen- und Gleisbau im Ural, beim Wälderroden am sumpfigen Wasjugan-Fluss in der Taiga. Nie wird die Welt über jeden der im Osten auf unsägliche Weise ums Leben Gekommenen genaue Kenntnis erhalten. Zynismen und Teufeleien, die sich die Täter einfallen ließen, umreißt der britische Historiker Donald Rayfield in seinem 2004 auf deutsch erschienenen Standardwerk „Stalin und seine Henker“ pars pro toto mit dem folgenden Satz: „Im Jahr 1937, etliche Jahre vor Hitler, setzte Stalins NKWD – das Polizeiinstrument seines Terrors – Vergasung als Mittel der Massenhinrichtung ein: Lastwagen mit Werbeplakaten für ,Brot‘ fuhren kreuz und quer durch Moskau und pumpten unterdessen die Auspuffgase in den Laderaum, wo nackte Häftlinge bündelweise zusammengebunden lagen, bis die Ladung bereit für die Leichengrube war.“ Wir dürfen, wollen wir die Selbstachtung nicht verlieren, den Blick nicht abwenden vom Ozean des Leids, vor den uns der Volkstrauertag stellt. Im Rückblick auf das Jahrhundert der Weltraumflüge und der Mondlandung, in dem gleichzeitig all dies möglich war, zog der Theologe und ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Verwaltung der Stasi-Akten, Joachim Gauck ein Fazit, das nicht nur die Historiker, sondern ebenso die Völkerkundler und -psychologen, die Philosophen, Soziologen, Anthropologen, Schriftsteller und Dokumentaristen solange beschäftigen wird, wie Menschen mit den Mitteln der Wissenschaft an die Erläuterung der Geschichte herangehen – Gauck schrieb: „Statt des neuen Menschen (den die Ideologien des 20. Jahrhunderts versprachen), erblicken wir am Ende des Jahrhunderts den nachhaltig verstörten Menschen, statt der neuen Gesellschaft zerstörte Gesellschaften.“ Ideologien besitzen eine ebenso seltsame wie gefährliche Verführungskraft: Sie bestechen durch die Logik ihres Entwurfs auf dem Reißbrett, täuschen aber darüber hinweg, dass sich das Leben, ein Vorhang unentwegten Wandels , nicht an den Entwurf halten kann, weil das Wesen des Lebens der Wandel ist. Der gelegentliche Hinweis z.B. auf die marxistische Grundlage der kommunistischen Ideologie: diese sei „an sich“ richtig, bloß hätten die Menschen, die sie praktizierten, die „an sich“ gute theoretische Grundlage verraten – dieser Hinweis ist von bestürzender Naivität und Oberflächlichkeit. Nein, beide große Ideologien des 20. Jahrhunderts – kommunistische wie nationalsozialistische – sind schon im Anlagekern unmenschlich: weil sie dem Menschen als Individualität das Recht auf Freiheit bestreiten. „Du bist nichts, die Nation ist alles“, lautete die Grundparole des Nationalsozialismus, „Du bist nichts, das sozialistische Kollektiv ist alles“, die des Kommunismus: Von diesem eindeutigen Ausgang leiten sich in konsequenter Weiterführung die Bestialitäten beider Systeme ab. Wohl kann darüber gesprochen werden – so es denn sein muss –, welchem der beiden Postulate der höhere Rang einzuräumen ist. Doch darf keines der beiden zum Diktat, im Namen keines der beiden darf Gewalt ausgeübt, dürfen gar Menschen umgebracht werden. Genau dies aber geschah im Namen beider. Sie handelten nach der Losung französischer Revolutionäre von 1789: Fraternité ou mort!, zu deutsch: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein! Wir bedürfen keiner in ihrer theoretischen Perfektion rechthaberischen Ideologie. Vielmehr bedürfen wir der in unserem Bewusstsein verankerten Verbindlichkeit des humanen und moralischen Gedankens, wie er allein unserer Gesellschaft das vielbeschworene menschliche Antlitz auf Dauer sichert. Die Toten lehren die Lebenden Das von Ideologie freie Totengedenken gehört zum Fundament der Kultur einer jeden Gemeinschaft – es ist Teil der geistigen Kraft, die uns die Wertekontinuität sichern hilft. Ihre Weitergabe ist unlöslich mit unserer Fähigkeit verbunden, uns als Erben der konstruktiven Wertebegriffe derer zu verstehen, die vor uns waren, weil wir andernfalls mit dem, was destruktiv auf uns einwirkt, nicht fertig werden. Denn nicht allein die Weisheit unserer Vorväter ist in uns wirksam, schrieb Nietzsche, sondern auch ihr Wahnsinn... So verstanden, liegt im Totengedenken nicht rückgewandter Stillstand, sondern Aufforderung zu Gegenwart und Zukunft. Wir können uns von unseren Toten nicht lösen, da wir uns sonst der Basis berauben, auf der wir stehen, einschließlich aber der Irrungen und Wirrungen. Auch sie nämlich sind Wegweiser ins Morgen, an den Kreuzungen, die falsche Richtung zu vermeiden. O nein, die klugen Philosophien Europas, die ich erwähnte, unsere religiösen Grundwahrheiten, das Ethos der Ideale, auf die uns die große Kunst dieses trotz aller Abstürze und Selbstzerfleischungen starken Kontinents immer wieder aufmerksam machten: Wir gingen immer dort in die Irre, wo wir sie nicht beherzigten. Unsere Entgleisungen können sie nicht disqualifizieren. Denn es lag und liegt nur an uns, in ihrem Geist zu handeln – oder sie zu verraten. Hic mortui vivos docent – hier lehren die Toten die Lebenden – lautet die gescheite Befindung eines Volkes auf der Höhe seiner geistigen Reife. Mögen uns die Schicksale jener Toten, an die zu erinnern hier meine Aufgabe war, das lehren, was unserem Heute und Morgen dienlich ist, mögen wir wach und verantwortungsbewusst genug sein, ihre Lehre zu verstehen. Hans Bergel Auf Einladung des Oberbürgermeisters der Stadt Dinkelsbühl, Dr. Hammer, hielt Dr. h. c. Hans Bergel am 16. November 2008 oben stehende Rede zum Volkstrauertag. Wir veröffentlichen diese hier in einer von ihm gekürzten Fassung; in gleicher Fassung erschien die Rede zuerst in der „Siebenbürgischen Zeitung“ vom 29.11.08.

  • Marianne ist gegangen

    Sie war eine meiner Mitautorinnen und wurde eine wunderbare Freundin. Marianne Degginger, geb. Unger, starb am Mittwoch, 15. März, im Alter von 90 Jahren in ihrem Haus in St. Gallen, Schweiz. Bis zuletzt wach, informiert, beteiligt und engagiert, auf Reisen, bei Diskussionen, als Zeitzeugin. Klug und emphatisch, immer lernbereit, mit einem klaren, realistischen Blick auf die Dinge. Ohne Aufhebens um sich selbst, konzentriert und zugewandt, wollte und konnte sie den Menschen nahe sein. Und konnte verbunden bleiben mit jüdischer Tradition und Gemeinde. Als 1932 in Berlin geborene "Halbjüdin" aufzuwachsen: das prägte Marianne für immer. Vieles, was damit zusammenhängt ist u.a. im Buch "Marianne. Eine wahre Geschichte" beschrieben. Aber für Marianne hörten die Fragen nie auf. Details ihrer Erfahrung und deren Folgen beschäftigten sie immer. Einer der letzten Fragen, die sie an mich richtete, lautete: "Gibt es Texte, die beschreiben, wie die Shoah eng befreundete Familien psychisch so deformierten", daß sie sich, beispielsweise durch (exilbedingte) Entfernung, einander gänzlich entfremdeten? Zu Thema der Shoa-Langzeitfolgen sollte in den nächsten Wochen ein Beitrag hier bei rainStein erscheinen, mit Mariannes Fragen und Antworten. Nun müssen andere antworten. Mariannes Buch ist vielleicht das am stärksten "verteidigte" und vernetzte Buch bei rainStein. Marianne war mit dem Buch viel unterwegs, auch wir beide zusammen haben es in Schulen und vor breiterem Publikum zur Diskussion gestellt. Schulen als Ort der Zeugenschaft waren spürbar ein besonderes Anliegen von Marianne. War es doch ihre eigene Kindheit, die durch die nationalsozialistische Herrschaft zerrissen wurde. Und ihr Buch zeichnet all die fundamentalen Brüche und feinen Schattierungen sachlich wie emotional mit einer Authentizität, die es nur von Zeitzeugen her gibt. Das einte uns: Wir müssen erinnern, beschreiben, faßbar machen. Was bleibt uns sonst, um den Opfern gerecht zu werden? - um Wiederkehr zu verhindern? Marianne, danke, daß Du mit uns warst. Du warst so menschlich, so präsent. Deine Wärme und ermutigende Anteilnahme wird uns weiter begleiten, wir werden sie erinnern und weitertragen!

  • Schmerz erzählen

    Für Yvonne Livay war es immer da. Für mich begann es an einem Freitagabend, Februar 2011, in der Wohnung von Yvonne und Ram Livay. Dort, in Jerusalem, am feierlich gedeckten Tisch, erfuhr ich, welch bedrängende Rolle eine kleine graue Schachtel im Leben der Mutter und in ihrem, Yvonnes eigenen Leben, spielte. Daß sie, Yvonne, noch nicht gewagt hatte, die gehütete Box zu öffnen. Das aber müsse geschehen, es würde schwer werden. Und dann gebe es noch jene andere Geschichte, die des Malers, rätselhaft und doch verbunden, fast wie ein Schlüssel, der einem entgegenkommt… Meine Anteilnahme wurde zur Aufregung: Dies zu erzählen! Wäre das möglich? Genau dies - falls es geschieht - : das Öffnen, das Begreifen, und vor allem der Prozeß, der der Begegnung mit den Dokumenten folgen würde…und ja, auch die Beschreibung des inneren Zusammenhangs zwischen Schachtel und dem, was geschah, als der Maler ins Leben der Mutter trat! Falls sich der vermutete Zusammenhang bewahrheiten würde, natürlich. Würde er? Ein anderes Jahr, ein anderes Land: Yvonne sitzt in einem norddeutschen Künstlerdorf und versucht, Worte zu finden. Der Sturm im Innern ist sichtlich groß. Gerade ist es durch Glück gelungen, von einem Künstler-Nachbarn erste Übersetzungen der Briefe zu bekommen - jener Briefe, die die Schachtel endlich, nach Jahrzehnten, verlassen hatten. Wir hatten darüber geredet. Nun aber war es Tatsache und vor Augen. Nun wußte Yvonne, was geschrieben stand. Was berichtet wurde. Was die Mutter als junge Frau hatte lesen müssen. Was betäubend in ihr aller Leben getreten war. Nie werde ich die innere Bewegung, die Yvonne in diesen Stunden erfaßt hatte, vergessen. Im Ausdruck ihrer Bewegtheit sprach sie mehr zu mir, als wenn sie schon Worte gefunden hätte. Aus ungeheurer innerer Anstrengung entstand das Buch: "Die Frau mit der Lotosblume". Es legt Zeugnis ab, es spiegel wider, es nimmt mit auf eine dokumentarische, menschliche, künstlerische Reise. Diese Reise können wir als Leser nachvollziehen. Auf vielen Ebenen wird uns die Botschaft erreichen: Wunden, Schmerzen, Qual -- und ein Kampf. Ein Kampf, in dem, für Yvonne, am Ende das Leben siegt.

  • Klänge aus Jerusalem

    Unten donnert die neue Autobahn durch ein einst stilles Tal nach Jerusalem. Oben liegt hell der Campus der Hebräischen Universität, die Gebäude von Musikhochschule und Akademie für Musik und Tanz. Gegenüber, abwärts in den Hang gebaut, existiert ebenfalls ein Refugium für Kunst: das Wohnhaus der Familie Livay. Sich auszusagen in Musik und Bild, in gehauenem Stein und geschriebenem Wort ist hier, innen wie außen, Alltag. Yvonne Livay, Sängerin, Malerin, Dichterin, sucht Inspiration im Unterwegssein: Auf den Straßen und Plätzen der Stadt, am Ufer der Meere, in den Weiten der Wüste. Indem sie hinausgeht, geht sie in sich hinein. Schon im Park nebenan, an den Hängen des Tals findet sie, was ihr zu existentieller Frage, manchmal zu gültiger Antwort wird. Diese übersetzt sie in Farben und Formen, die wie Musik wirken - präzise und unbestimmt zugleich, in aller Skizzenhaftigkeit vor Emotion sprühend – und uns berührend wie Musik . Musik, die ihr erklingt, bringt sie hingegen ins Wort. Yvonne Livay ist eine Lebenssammlerin. Sie benutzt Material und Sprache, die sie unterwegs aufliest. Das Zufällige und Veränderbare bearbeitet sie mit Fragen nach dem Eigentlichen und scheut dabei nicht das Verharren in Zwischenschichten. So entsteht aus Allem ein gut erkennbarer, nur ihr gehörender Ausdruck, ein bannendes, fragendes Schwebenlassen. Dem muß man sich aussetzen: Was auch immer sie aufnimmt, erhält bei Livay eine unerhört dichte Diktion. Gewiß, persönliche Erinnerung und Last der Geschichte breiten im Leben der Künstlerin unaufhörlich Schleier aus. Verwoben mit Alltagsleben erstrecken sich Traum und Albtraum in diesem Haus über dem Tal in alle Gegenwart: überall Masken, verhangene Totenmasken, Gesichter der lang Verlorenen und Vermißten, ein tägliches, inniges Requiem, das Yvonne Livay den Ermordeten darbringt. Und im Atelier liegt Schwere über dem mühsamen Arbeiten mit sperrigen Fundstücken, rostigem Draht, den Yvonne Livay im Kampf, dem Entsetzen Grenzen zu setzen, zu Kronen, Lebenskronen, Dornenkronen biegt und windet. An diesem Ort wird um Leben gerungen. Und Leben aus Schatten herausgehauen, in dichteste Form gebracht. Dabei durchzüngelt heftige Sehnsucht nach Liebe und Leichtigkeit die Texte und Bilder. In knappesten Strukturen, kargen Chiffren legt Yvonne Livay Gefühle bloß. Folgt man der Spur, unternimmt man womöglich eine dramatische Reise ins eigene Ich. Yvonne Livay wurde 1942 in Zürich als Tochter jüdischer Eltern geboren. Ihre polnisch-jüdische Mutter, gerettet, sah im Höllenbrand deutscher Vernichtung machtlos Mutter und Familie, fast ihr ganzes Volk verlorengehen. - Yvonne Livay hat als Erwachsene in Jerusalem Zuflucht und Zuhause gefunden. Viele Sprachen sprechend, dichtet sie dennoch fast ausschließlich auf deutsch. Viele Jahre war sie Mitglied der deutschsprachigen Jerusalemer Dichtergruppe LYRIS. (Vorwort zu „Herbstbrand“, 2011/ z.Z. vergriffen/ Voranfragen möglich)

  • Femo findet Freunde!

    Werden auch Sie Femos Freund! Das erste Kinderbuch im rainStein Verlag - "Drache Femo sucht einen Freund", geschrieben und illustriert von Andrea Betcke - fasziniert Kinder unterschiedlichen Alters. Und die Erwachsenen, die daraus vorlesen dürfen!

  • Schweigen

    In der vergangenen Woche wurden wir hier im Tagebuch daran erinnert, wie sehr Überlebende und Nachkommen von Opfern des Nationalsozialismus bis heute leiden. Womit sie kämpfen. Wie schwer es ist, über radikalen Verlust, das Gemordetsein der Liebsten, ins Nichtsein Getretensein des eigenen Volkes zu sprechen. Wie sehr die Worte fehlen. Mögen Gedanken, Emotionen im Innern brennen- sie finden die Sprache nicht. Vielleicht weil niemand da ist, der bereit oder fähig ist, zu hören? Vielleicht, weil die, die bereit und fähig wären, die Falschen sind: Die eigenen Kinder, die, erführen sie von dem, was war, fortan unheilbare Wunden in sich tragen würden. Von solcherart Wunden sprechen viele rainStein-Bücher. Von jenem Ringen sind Lyrik, Berichte und Prosa derer erfüllt, denen rainStein ein Anker und Fenster zur Welt geworden ist. Es gibt aber auch das andere Schweigen: es liegt auf jenen, die die Täter waren. Auch hier die große Wand, die daran hindert, zu erzählen: Wie denn? Wem? Wer bin ich dann, wenn die Worte einmal gesprochen sind? Wer werde ich noch sein können? Umso bitterer und härter die Fragen und Leiden der Kinder. Es sei denn, sie wischen das Undenkbare, erfahren sie vom Dunklen, fort. Werfen es hinter sich und ziehen für ihr Dasein die Stiefel abwehrender Blindheit an. Auf dieser Seite fällt das Fortwischen leichter. Warum sollte einer mit Schuld und Scham leben? Es gibt auch das Schweigen der Zeugen. Sie sahen, wußten. Sahen aber nicht, was sie tun konnten. Oder wer ihrem Zeugnis Glauben schenken würde. Es gibt sogar das Schweigen der Retter. Ihre Tat wollen sie nicht ausstellen, es gehört sich nicht, das Leiden der Anderen deckt (fast) alles zu. Was übrig bleibt, vernichtet der dunkle Neid derer, die nicht gerettet haben. Von all dem spricht der erste rainStein-Roman. Er erschien in Zeiten der Pandemie und konnte nicht in die Welt hinein gelesen werden. Bei seinem Erscheinen erlebte er eine neue Art Schweigen. Nun aber kann er gehört werden: "Hinter dem Schweigen" ist von eigenem Schmerz, eigener Sprachlosigkeit und inniger, strahlender Lebensbejahung erfüllt. Sprechen Sie uns an! Hanna Ringena wird Ihrem Ruf zu einer Lesung folgen.

  • Vermächtnis

    Verena von Hammerstein wäre am 25.02.2023 hundert und ein Jahr alt geworden. Die Züricherin fühlte sich von früher Kindheit an, zeitlebens, tief mit ihren jüdischen Freundinnen verbunden. Freundinnen, die die Shoa überlebten, die in der Resistance ihr Leben aufs Spiel setzten. Sara Nachama schrieb in ihrem Geleitwort zum Buch "Verena von Hammerstein und ihre jüdischen Freundinnen" u.a.: „Letztlich aber zählt in unserem Leben nur eines: die Tat. Was wir tun und nicht was wir wollen, ist gültig. In dieser Hinsicht wird es unerheblich, welcher Herkunft und Religion oder Überzeugung wir sind: wenn wir das Richtige tun. Es hilft einem die beste Religion (oder Nichtreligion) nicht, wenn man sich nicht handelnd der Gewalt und dem Hass widersetzt. In seinen heutigen modernen Formen heißt der Judenhass aber oft Israelhass. Was der Hass auf Juden angerichtet hat und bis heute anrichten kann, das wird im Buch beschrieben. Was man dagegen tun muss, das haben uns Renée, Verena und andere vorgelebt.“

  • Entdeckungen: Livay und Oppenheimer

    Beitrag zum Buch „Die Frau mit der Lotosblume“ von Yvonne Livay Der Autorin Yvonne Livay begegnete ich bei der Preisverleihung zum 16. Wettbewerb der Stiftung Kreatives Alter in Zürich im Oktober 2022. Wir gehörten zu den 20 Empfängern der Anerkennungsurkunden, die als 2. Preis ausgelobt waren. Was ich zu Inhalt und Hintergrund ihres dort vorgelegten Buches erfuhr, erinnerte mich an die Erzählungen Richard Oppenheimers (Venice, Florida) zur Lebensgeschichte seiner Eltern Max und Erika bei seinen Besuchen in Bad Wildungen. Wie Yvonne Livay hatte Richard nach dem Tode seines Vaters (20 Jahre nach dem Begräbnis der Mutter) einen im Nachlass verborgenen Schuhkarton gefunden. Dieser enthielt Aufzeichnungen seiner Mutter aus den Jahren 1945/1946 über ihre Erlebnisse als verfolgte Jüdin in den Jahren 1941 bis 1945. Die Berichte bezogen sich auf Bad Wildungen, Kassel, Riga, die Konzentrationslager Kaiserwald in Lettland, drei weitere namentlich nicht in Erinnerung gebliebene Lager in der Nähe von Thorn und das Lager Stutthof bei Danzig. Mit ihrer Mutter Lina Mannheimer hatte Erika als einzige der Familie diese Zeit überlebt. Beide waren zufällig auf dem Todesmarsch durch Polen auf dem Weg gen Westen wieder zusammengetroffen, gemeinsam kehrten sie nach Bad Wildungen zurück, wanderten von dort 1946 in die USA aus. Dort heiratete Erika 1948 Max Oppenheimer, der bereits 1940 in die USA emigriert war. Außer den handschriftlichen Aufzeichnungen seiner Mutter Erika fanden sich im Schuhkarton Teile des Briefwechsels zwischen Max Oppenheimer mit einem Jugendfreund in Augsburg aus den Jahren 1947/1948, in dem die Verwendung des in Augsburg verbliebenen Vermögens der Oppenheimers nebst dem Verhalten diverser Augsburger Bürger Thema war. Beiden, Yvonne Livay und Richard Oppenheimer, ist ferner gemein, jeweils erst in fortgeschrittenem Alter von der Existenz einer in die Familien hineingeborenen Cousine erfahren zu haben, Yvonne Livay 2012 aus einem Brief ihrer Tante an ihre Mutter, Richard Oppenheimer im Zuge seiner Forschung über seine Familie beim Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main 2016. Die Geburt des 1938 in Neu-Isenburg geborenen Kindes Lane, Tochter von Marga Mannheimer, Erikas älterer Schwester, war der Familie Mannheimer verschwiegen worden. Das Kind wurde, wie seine Mutter, unmittelbar nach der Ankunft des aus Berlin ankommenden Transportzuges im Bikernickiwald bei Riga am 22. Oktober 1942 ermordet. Ihre Vergangenheit verschwieg Erika Oppenheimer gegenüber ihrem Sohn Richard bis zuletzt, desgleichen ihre dreimaligen Aufenthalte in Deutschland zwischen 1977 und 1984, zu deren Anlass sie als Zeugin in Gerichtsverfahren gegen Täter der SS geladen war. Sie unterließ es auch, Informationen aus ihrer alten Heimat zu vermitteln oder in seiner Gegenwart mit ihrem Ehemann darüber zu sprechen. Sie verweigerte ihm ein in Deutschland hergestelltes Fahrrad wie auch während der Schulzeit den Gebrauch einer mechanischen Schreibmaschine aus deutscher Produktion. Die deutsche Sprache hörte er ausschließlich von Lina, der mit im Haushalt lebenden Großmutter. Max und Moritz und Struwwelpeter waren ihre Vorlesebücher. Richard Oppenheimer reiste indessen nach 2011 mehr als zehnmal in die alte Heimat seiner Eltern, folgte den Spuren von Mutter und Großeltern nach Polen, Litauen, Lettland und der Gedenkstätte Sachsenhausen. Darüber verfasste er die Erinnerungsbücher „Walking in the footsteps of my mother“ und „Searching for the footsteps of my father“. Schließlich beantragte er den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Den deutschen Pass besitzt er seit Mai 2022. Bad Wildungen wurde seine zweite Heimat, in der er gern wieder wohnen möchte. Anhang: Richard Oppenheimer, geboren 1950 in New York Erika Oppenheimer geb. Mannheimer, geboren 1923 in Bad Wildungen, gestorben 1988 in New York Max Oppenheimer, geboren 1915 in Augsburg, gestorben 2006 in New York Lina Mannheimer, geborene Lilienstein, gestorben 1981 in New York * Beitragsbild:"THE GREY BOX", von Yvonne Livay, Jerusalem, 2012

  • Manfred Winkler gewürdigt

    Manfred Winkler war israelischer Nationalpreisträger für Lyrik (1999) und eines der Gründungsmitglieder des LYRIS-Kreises. Für rainStein schrieb er Vorworte und stellte seine bildnerischen Werke für rainStein-Covergestaltungen zur Verfügung. Dörthe Kähler begegnete dem Dichter in Begleitung unserer Autorin Yvonne Livay in seinem Haus nahe bei Jerusalem und hatte Gelegenheit zu ausführlichem Gespräch. Manfred Winkler wäre im Oktober 2022 hundert Jahre alt geworden. Er starb im Juli 2014 in Jerusalem. Im November 2022 traf sich in Jerusalem eine hochkarätige Runde von Freunden, Kennern und Wissenschaftlern unter der Ägide des dortigen Goethe-Instituts, um Manfred Winkler zu würdigen. Insbesondere wurde sein immenser Beitrag zum (osteuropäisch) Deutschjüdischen und Hebräischen sowie den Beziehungen beider Sprachwelten untereinander hervorgehoben. Gelesen wurde aus dem Winkler-Band Noch hör ich deine Schritte, welcher von Manfred Winkler selbst übersetzte Gedichte in beiden Sprachen versammelt. Hier der Mitschnitt der Gedenkveranstaltung (mit Dank an Prof. em. Dr. Schrader)

  • Wie gedenken?

    Heute werden sie täglich und allerorten verwendet: Begriffe, die sich auf jene düstere Zeit beziehen. Mit jedem Mal, da diese Worte auf Heutiges und Heutige gemünzt werden, zieht sich eine Decke über das, was war. Das, was wirklich war und was ab einem Tag Ende Januar 1942 in Wannsee unabwendbar blieb: es wird (trotz aller Gedenkreden) immer neu vehement verwischt und begraben. Denn wer heute zu jemandem, der nicht der eigenen Meinung ist, "Nazi" sagt, löscht das Gedenken aus. Das Gedenken an lebendige Kinder, Mütter, Väter, die aus ihren Betten, aus den Armen ihrer Lieben gerissen wurden, eingereiht und in den Tod gestoßen. Das Böse, das geschah, vergeht nicht. Zu trauern um die Menschen, die von unseren Landsleuten Gesicht zu Gesicht ermordet wurden, wäre unser Wall gegen neues Böses. rainStein berichtet von denen, deren Leben im Mordfeuer unterging: Worte, Fotos, Briefe. Sie erzählen einen Schmerz, der nie vergeht. Lesen Sie unsere Lyris-Bände. Lesen Sie "Marianne. Eine wahre Geschichte". Lesen Sie "Das Kind im Park". Lesen Sie "Die Frau mit der Lotosblume". Lesen Sie "Verena von Hammertsein und ihre jüdischen Freundinnen". Lesen Sie "Hinter dem Schweigen". Lesen Sie u.a. von Hillel Krohn, einem der ermordeten Cousins von Rhea Schönborn. Nur Rhea wurde gerettet, hat als Kleinkind mit Hilfe fremder Menschen die Jahre der tödlichen Verfolgung in Berlin überlebt und ist noch heute unter uns. (Das Kind im Park).

  • Genf: Yvonne Livay liest

    Die Jerusalemer Autorin Yvonne Livay ("Rostige Zeiten", "Herbstbrand", "Die Frau mit der Lostosblume") wird der Einladung der Société Genevoise d'Études Allemandes folgen und daselbst in Genf am 23. März 2023 ihre Dichtung sowie ihre dokumentarische Erzählung "Die Frau mit der Lotosblume" (alle im rainStein Verlag erschienen) vorstellen. Prof. Dr. Schrader, Ehrenvorsitzender der Société genevoise d'études allemandes: "Gleich einigen anderen der zugleich deutsch und hebräisch Schreibenden im zuletzt von ihr geleiteten Jerusalemer LYRIS-Autorenkreis ist Yvonne Livay eine multiple Künstlerin. Da die Mutter den Nazis rechtzeitig aus dem polnischen Dombrowa Gornica entkommen konnte, wurde sie 1942 in Zürich geboren, ist dort auch aufgewachsen. Studiert hat sie Gesang und Gesangspädagogik, zunächst in Bern und Basel, dann in Jerusalem, wo sie mit ihrem Mann, dem Psychologen und Bildhauer Ram Livay, und der Familie seit 1971 (mit Auslandsunterbrechungen) lebt. Dort hat sie auch Zeichnen, Malen und Bildhauerei studiert. International bekannt wurde sie v.a. als bildende Künstlerin (Ausstellungen ihrer Bilder, Grafiken und Objekte in Israel, Tschechien und Deutschland, häufiger, zuletzt im Sommer 2022, in Berlin). Uns stellt sie ihr eindrucksvolles poetisches Werk vor, die „Worttürme“ ihrer (bebilderten) Lyrikzyklen „Rostige Zeiten“ (2010) und „Herbstbrand“ (2011), sowie die erschütternde (kommentierte) Dokumentation der ererbten Familienbriefe aus dem Ghetto und Todeslager, „Die Frau mit der Lotosblume“ (2020), alle im Berliner rainStein-Verlag." (www.sgea.ch)

  • Willkommen!

    Eines neues Jahr beginnt - und wir öffnen wieder unsere Tore! Monate hat es gedauert, technische Hürden waren zu nehmen, - nun aber haben wir unser neues kleines Zuhause und laden Sie ein, sich umzuschauen. Kommt Ihnen die Seite vertraut vor? - Wir haben versucht, uns treu zu bleiben. Und wie gewohnt erreichen Sie uns über das Kontaktformular oder weiter direkt über info@rainstein.de, ob bei Nachfragen zu Büchern oder zu anderen Angelegenheiten. Haben Sie übrigens schon den Drachen Femo entdeckt? Er logiert hier seit dem vergangnen Jahr - und ist auf der Suche nach Freunden! :)

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